ObjektnummerHHI.2015.G.4000.11
11 Assisi verlassen
UntertitelMit Bildern von Ulrich Erben
Autor*in
Ingrid Bachér
(DE, geboren 1930)
Künstler*in
Ulrich Erben
(geboren 1940)
Datierung1993
Beschreibung"Als er diesmal in die Stadt kam, die er wie jeden Sommer auf seiner Fahrt nach Siena besuchte, fand er sie fremd vor. Nicht wie sonst nur stickig, bedrängt von den sie im üblichen Gleichmaß durchziehenden Touristen, sondern im Aufruhr, wie nach einem Attentat. Das Ungeheuerliche, sonst wohl verborgen, trat hervor als Unordnung und Chaos. Schon auf der einzigen breiten Zufahrtstraße nach Assisi hügelaufwärts stockte die Prozession der Privatwagen und Überlandbusse. Sie standen in der Glut der nachmittäglichen Hitze, bis das drückende Feuer nachließ, das die Äcker zu beiden Seiten der Straße längst verbrannt hatte."In diesen gediegen-rhythmisierten Sätzen, plastisch, fast wie gestanzt, beginnt die Erzählung Bachérs. Der alternde Kunsthistoriker Felix Murnau kommt, wie jedes Jahr, aber nun zum letzten Mal vor seiner Emeritierung, nach Asissi, um Bilder Giottos und Cimabues mit seinen Schülern zu analysieren. Doch der Ort ist in Aufruhr: Der Sarkophag des heiligen Franziskus, der in der dortigen Basilika San Francesco ruht, ist aufgebrochen, unklar, was vorgefallen ist – ist es das Werk von Räubern oder hat der Heilige selbst seine Grabstätte verlassen?
Murnau indes ist an diesem Spektakel nicht sehr interessiert. Leider stellt sich heraus, dass seine Hotelreservierung vergessen wurde, nun sind alle Zimmer vergeben. Ziellos streift er durch den Ort, der aufgrund des sensationellen Ereignisses vollkommen überfüllt ist, die Restaurants platzen aus allen Nähten, selbst die öffentlichen Trinkbrunnen werden von Menschentrauben belagert. Mitten im Chaos, angeregt von einer Flagellantengruppe, streift ihn ein Strahl der Erkenntnis. Ihm wird klar, dass er in seiner kunsthistorischen Betätigung immer nur Beobachter geblieben ist, nie unmittelbar am Leben teilhatte: "Er, immer ein Eiferer für die Kunst, hinter der Deckung von Kunst, war nie radikal genug gewesen, um teilzunehmen an dem, wovon sie Zeugnis gab."
Am Ende sinkt er kraftlos an einer Hauswand nieder, es ist nicht klar, ob dies nur dem Erkennen der Wahrheit geschuldet ist oder ob es sich um einen Herzanfall handelt, ob er hinübergleitet in den Tod oder nur in ein meditatives Nichts: "Später spürte er, daß man ihm die Jacke auszog. Er wollte etwas sagen, aber es gelang ihm nicht. Der Raum, zu dem er gehörte, dehnte sich aus. Er nahm etwas wahr und dann noch etwas und dann nichts Bekanntes mehr."
Erschienen in der Eremitenpresse, Düsseldorf 1993.
KlassifikationDruck- und Schriftgut - Buch (gedruckt)
Anzahl/Art/UmfangBuch
Institution
Heine-Institut und Schumann-Haus
Abteilung
HH Schriftstellernachlässe
14. Jahrhundert
Wohl 14./15. Jahrhundert