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Franz Xaver Messerschmidt (Künstler*in), Charakterkopf "Gähner", ca. 1775
Charakterkopf "Gähner"
Charakterkopf "Gähner"
Kunstpalast - LVR-ZMB - Stefan Arendt/ARTOTHEK
ObjektnummerP 2009-27

Charakterkopf "Gähner"

TitelCharacter head „Yawner“
ObjektbezeichnungBüste
Künstler*in (Wiesensteig 1736-1783 Preßburg)
Provenienz (1877 - 1947)
Datierungca. 1775
Material/TechnikBronze, schwarz patiniert
EpocheKlassizismus
Maße(H x B x T): 45 × 19 × 22 cm
BeschreibungMesserschmidt, Schüler von Johann Baptist Straub, gehört zu den Wegbereitern einer neuen, frühklassizistischen Kunstrichtung in Wien um 1770. Seine bekanntesten Werke sind die 49 sogenannten Charakterköpfe, physiognomische Studien, mit denen der Künstler in grotesker Übersteigerung die Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Gesichts auslotete. Die Beschäftigung mit den humanen Affekten ist sicherlich auch der Entwicklung in den Geisteswissenschaften jener Zeit geschuldet. Der Gähner gehört zu den markantesten Werken des Künstlers; was den weit aufgerissenen Mund betrifft, könnte er sich auf bekannte Vorbilder bezogen haben wie etwa Giovanni Lorenzo Berninis anima dannata. Die Originale entstanden zumeist aus Blei oder Stein. Bronzegüsse,
wie der hier vorliegende, wurden nach dem Tod des Künstlers in geringer Auflage gefertigt.
Barbara Til, aus: Die Sammlung Museum Kunstpalast, Düsseldorf, hrsg. v. Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf 2011, S. 42

Kunstwerk des Monats, August 2011
Nach einer Ausbildung in München und Graz bei seinen Verwandten aus der bekannten Bildhauer-Familie Straub studierte Messerschmidt ab 1755 an der Wiener Akademie der Künste und entwickelte sich zu einem der Wegbereiter des Frühklassizismus in Wien. Er erhielt zahlreiche Aufträge vom Wiener Hof, war seit 1769 selbst Mitglied der Akademie und zeitweise als stellvertretender Professor tätig. Ob aufgrund von Intrigen oder wegen einer psychischen Erkrankung, Messerschmidt wurde nie zum ordentlichen Professor berufen. Bereits seit 1774 pensioniert, ließ er sich 1777 schließlich in Preßburg (Bratislava) nieder. Hier widmete Messerschmidt sich über lange Jahre seinen bereits 1770 begonnenen physiognomischen Studien und schuf eine Reihe sogenannter Charakterköpfe.

Mit seinen von grotesker Mimik bzw. von genauer Beobachtungsgabe geprägten Büsten, zu denen auch "Der Gähner" gehört, führte Messerschmidt eine Tradition weiter, die auf die Typendarstellungen des Mittelalters bzw. die physiognomischen Studien durch Künstler wie Leonardo oder Bernini zurückgeht und im 18. Jahrhundert neu rezipiert wurde. Im Zuge der wissenschaftlichen Erforschung der Natur befassten sich seit den 1760er-Jahren verschiedene Künstler, Schriftsteller wie J. C. Lavater, aber auch Mediziner wie Messerschmidts Freund F. A. Mesmer mit der Frage nach dem Sitz der Seele im Körper des Menschen. Die Physiognomie galt vielen als Spiegel der Seele. Messerschmidt nahm mit seinen physiognomischen Studien, die er als "Köpf-Stückhe" bezeichnete, künstlerisch an diesem Diskurs teil.

Ein Zeitzeuge übermittelt, dass sich Messerschmidt für die Erarbeitung seiner "Charakterköpfe" selbst Modell stand: "Alle diese Köpfe waren sein Bildnis. Ich sah ihn am ein und sechzigsten Kopfe arbeiten. Er sah dabey jede halbe Minute in den Spiegel, und machte mit größter Genauigkeit die Grimasse, die er brauchte." (Friedrich Nicolai)

Die Reihe der nach Messerschmidts Tod erhaltenen 49 Büsten, gefertigt aus Zinn, Blei, aber auch Alabaster, bildet heute das Hauptwerk des Künstlers und wurde in einer Auswahl im Frühjahr 2011 im Louvre gezeigt. Ursprünglich plante er 64 Köpfe, die "allgemein menschliche Erfahrungen", die in der Mimik sich widerspiegelnden Gemütszustände der Seele künstlerisch darstellen. Seine Arbeit an den von ihm nummerierten Büsten war von dem aufklärerischen Bedürfnis nach Systematisierung beeinflusst. Gemeinsam ist fast allen Charakterköpfen, dass sie einen Mann mit kahlem Schädel, d.h. ohne Perücke oder sonstige gesellschaftliche Attribute darstellen. Messerschmidt bricht hier deutlich mit der barocken Bildtradition, welche sich durch eine idealisierte Darstellung der Porträtierten mit Perücke, Prunkgewändern und Orden auszeichnet. Eine Neuerung ist zudem die frontale Ausrichtung von Körper und Kopf.

Neben seinen Typendarstellungen, die wie der "Der Erzbösewicht" oder "Ein mit Verstopfung Behafteter" eher als karikaturhafte Übersteigerung gesehen werden können, ist "Der Gähner" dem exakten Abbild eines humanen Affektes geschuldet. Der Kunsttheoretiker Nicolai ist nach einem Besuch bei Messerschmidt 1781 von dieser markanten Büste besonders beeindruckt: "...den Mund ganz aufsperrend..., so daß man Zähne, Gaumen und die Zunge bis an die Wurzel sehen konnte; Gegenstände die vielleicht noch nie von einem Bildhauer sind vorgestellet worden. Dieß war mit einer bewunderungswürdigen Richtigkeit und Wahrheit gearbeitet."

Von vorne betrachtet, verdeckt der weit nach unten herabgesenkte Unterkiefer des "Gähners" den gesamten Hals und berührt die Brust. Der grimassenhafte Ausdruck der Büste wird gesteigert durch den Kontrast zwischen dem bis hin zum Zäpfchen realistisch ausgebildeten, aufgerissenen Rachen und der fast zeichenhaft wirkenden Formgebung der Hautfalten um Augen, Mund und Kinn. Die Plastizität des ausdrucksstarken Gesichts wird gerade im Zusammenspiel mit dem glatten Schädel betont. "Der Gähner" scheint von Messerschmidt genau im Moment der größten Muskelanspannung fixiert worden zu sein.

Die Bezeichnung "Der Gähner" erfolgte nicht durch Messerschmidt selbst, der seine Charakterköpfe ohne Titel ließ, sondern 1793 im Rahmen eines Verkaufskataloges, der mehrere Büsten des Künstlers mit kennzeichnenden Titeln anpries. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Büste statt eines herzhaften Gähnens möglicherweise einen Schrei darstellt?

Mit seiner Werkgruppe der zumeist aus Blei oder Stein gefertigten, von realistisch bis mimisch-grotesk dargestellten Charakterköpfe erweist sich Messerschmidt bis heute als einer der faszinierendsten Bildhauer der Aufklärung. Bronzegüsse, zu denen auch das aus der Schenkung Dr. M. J. Binder stammende, schwarz patinierte Exemplar im Museum Kunstpalast gehört, wurden nach dem Tod des Künstlers nur in geringer Auflage gefertigt.
Katharina Schillen
Klassifikation3D Kunst - Skulptur
KlassifizierungBüste
SchlagwortBronze
SchlagwortMarmor
Copyright DigitalisatKunstpalast - LVR-ZMB - Stefan Arendt/ARTOTHEK
Ausstellungsgeschichte2020 Wolfburg
Ausstellung "In aller Munde - von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman"
31.10.2020-5.4.2021

2017 Weimar
Ausstellung "Winckelmann. Moderne Antike.", Neues Museum Weimar, 07.04.2017 - 02.07.2017

2011 Düsseldorf
Präsentation in der ständigen Sammlung des Museum Kunstpalast, Düsseldorf 2011
Literatur/QuellenDie Sammlung Museum Kunstpalast, Düsseldorf, hrsg. v. Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf 2011, S. 42
PublikationenAK Wolfsburg 2020
Ruhkamp. In aller Munde; das Orale in Kunst und Kultur. Kunstmuseum Wolfsburg, S. 104

AK Weimar 2017
Winkelmann. Moderne Antike. Neues Museum Weimar, S. 226, Kat. 51


In Sammlung(en)
Institution Kunstpalast
Provenienz[...]; o.D. Dr. Moritz Julius Binder (1877 - 1947), Berlin; 1947 erhalten als Dauerleihgabe aus dem Nachlass Dr. M. J. Binder; 1995 erworben durch Schenkung aus vorgenanntem Nachlass

Fritz Schwegler, Denkmal U Thant, 1989
Fritz Schwegler
1969
Tapisserie "L'homme"
Jean Lurçat
1945
Ernst Ferdinand Oehme
1. Hälfte 19. Jahrhundert
Studie zu einem hl. Franziskus
Andrea del Sarto
um 1515
Bert Gerresheim
Heinrich-Heine-Monument, 1981
Bert Gerresheim
1981
Die Heimsuchung Mariens
Giovanni Battista Beinaschi
1668–1673
Hans Erich Pfitzner
26.02.1977 (1976/1977)
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