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Schriftstellernachlässe
Korrespondenz von Josef Nadler an Carl Enders
Schriftstellernachlässe
Schriftstellernachlässe
Object numberHHI.2010.1000.243

Korrespondenz von Josef Nadler an Carl Enders

Absender*in (1884-1963)
Empfänger*in (DE, 1877 - 1963)
Date1919
DescriptionFreiburg, den 30.5.1919: Bei einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen N. und Franz Schultz hat Enders für N. Partei ergriffen. N. legt daraufhin noch einmal ausführlich seinen Standpunkt dar: "Lebensfremd mag mein Verfahren nach außen hin scheinen, sogar unklug in dem Sinne, als ich mir damit schade. Aber Sie irren, wenn Sie glauben, dass ich mir dessen nicht von Anbeginn bewusst gewesen wäre. Von dem Augenblick, da ich hierher gegangen bin, ja schon, da ich mich 1910 entschloss, hierher zu gehen, brauchte ich keinerlei Rücksicht zu nehmen. Denn ich hatte damit ja auf jede Aussicht, irgendwann u. irgendwo im damaligen Reiche wirken zu können, von vornherein verzichten müssen. Wenn Sie aber mit dem Ausdruck "lebensfremd" meinen, der ganze Gedanke sei eine Frucht unerfahrener Konstruktion, so halte ich Ihnen entgegen, dass ich in Deutschböhmen geboren bin u. aufwuchs, dass ich in Prag studierte, dass ich mit Nordböhmen u. Egerländern, Tirolern u. Wienern, Steirern u. Salzburgern unter verschiedensten Verhältnissen im gleichen Zelt u. gleichen Schmutz zusammen lag, wo man dem gegenseitigen Kennenlernen gar nicht ausweichen kann. Ich habe zwischenhinein ein schönes Stück Deutschland kennen gelernt; ich bin an Volksgrenzen herangereift in Böhmen, in Trient, hier in Freiburg. Ich habe nirgends das Deutsche an sich gefunden sondern stets die alte Vielheit in lebendigster u. bewusster Fortwirkung. Der Gedanke, der Ihnen lebensfremd erscheint, ist mir aus dem praktischen Leben stark geworden, nicht aus Büchern. Sie schließen aus der jetzigen Weltentwicklung auf die suggestive Kraft gemeindeutscher Tendenzen. Ich kann Sie aber versichern, dass sich der deutsche Eidgenosse nie seit den letzten Jähren so ausschließlich eidgenössisch fühlt wie jetzt, dass auf stammestümlicher Grundlage ein Großthüringen in Bildung ist, dass gemeinschwäbische Tendenzen nach politischen Ausdruck ringen, von den Strebungen in Rheinfranken ganz zu schweigen. Ich sehe im Gegenteil, dass der Gedanke sogar politische Formen annimmt. Man lässt sich in Deutschland durch den Wiener Rummel täuschen. Wer Wien, die Wiener Verhältnisse u. den Wiener selber kennt, bewertet das alles sehr vorsichtig. Wien ist vollkommen vereinsamt. Aus diesem Gefühl u. aus dem Justammentstandpunkte - man glaubt, dort den österreichischen Nationalstaaten u. den anderen etwas antun zu können - ist diese ganze Bewegung gemeint. Es ist Angst vor dem konservativen Charakter des österreichischen Volkes - "deutsch-österreichisch" ist ja ein Pleonasmus. Wir lesen der Gegenwart sehr verschiedene Antworten ab. Nun, darauf kommt es ja auch gar nicht an.
Ich war bisher der Meinung, dass ich mir erst mein Recht erkämpfen müsste u. seit 2-3 Jahren höre ich immer, dass die anderen es haben wollen. Aber sie haben es ja alle u. zudem die Machtmittel, Einfluss auf zahlreichen Nachwuchs, um es geltend zu machen. Letzte Synthese u. die hundertfach verschiedenen Bedürfnisse der Analyse sind ja doch zweierlei. Das eben eine vorzeitige Synthese erkenntnistheoretische Wirkungen hat, dass hoffe ich noch zu erleben. In gewissem Sinne ist jede Synthese verfrüht, weil die Analysen nie erschöpfend u. abschließend sein können. Wären sie das, so müsste jede Wissenschaft einmal mit ihrem Stoff fertig werden wie ein Haus, das völlig ausgebaut ist u. dann eben bewohnt wird. Ich glaube nicht, dass man jemals eine Wissenschaft in diesem Sinne bewohnen wird, man kann immer nur daran bauen. Dass man immer wieder entreißen muss u. von neuem baut, das gehört ja zum Wesen aller Wissenschaften, die wir kennen."

Freiburg, den 13.8.1919: N. bedankt sich für Enders "literarische Gabe", die ihm "wie gerufen" komme. "Ich glaube, damit haben Sie das Problem im Wesentlichen gelöst, soweit Absicht des Dichters, Bedeutung u. Stellung der Figur in der Dichtung in Betracht kommen." N. weist auf eine Stelle bei Paracelsus hin. "In der Zuschrift seines Werkes de rerum, gezeichnet Villach 1535 u. gerichtet an seinen Freund Johannes Winkelsteiner zu Freiburg hier, setzt Paracelsus das Rezept für den Homunkulus auseinander." Der Besuch der Hochschule, an der N. lehrt, habe im Augenblick merklich nachgelassen; der Bundesrat habe daher die Einreise- und Aufnahmebedingungen für Ausländer erleichtert. N. berichtet von einer Doktorarbeit über "régionalisme in der französischen Literatur", die er hochinteressant finde. "ich habe daraus ersehen, dass diese Dinge, wie das ja der Franzose immer macht, dort regelrecht organisiert sind u. dass diese Bewegung in jüngster Zeit aus der Literatur bereits in das Gebiet der Verwaltung überzugreifen beginnt. Ich habe daraus ersehen, dass es sich hier in Deutschland wie in Frankreich um Parallelentwicklungen handelt, die allerdings für das zentralistische Frankreich etwas ganz auffälliges sind." N. wird die Arbeit im "Euphorion" besprechen.

aus: Horstmann, Christina: Die Literarhistorische Gesellschaft Bonn im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dargestellt am Briefnachlaß von Carl Enders, Bonn, Bouvier, 1987
ClassificationsArchivalie - Korrespondenz
Curatorial Remarks2 eigenhändige Briefe mit Unterschrift ; 1 adressierter Briefumschlag
AbsendeortFreiburg (Schweiz)
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