Object numberHHI.2016.G.1001.483
Korrespondenz von Fanny Lewald an eine unbekannte Dame
Absender*in
Fanny Lewald
(1811 - 1889)
Empfänger*in
Zerline Gabillon
(DE, AT, 1835 - 1892)
Date1860
DescriptionTranskriptionSonntag Morgen
Theure Frau! ich bin gestern mit dem Gedanken
an Sie Beide eingeschlafen, u heute früh mit der
Empfindung aufgewacht, dass ich gestern ein schönes,
freudiger Erlebnis gehabt u etwas gesehen habe,
was ich schöner nie sehen kann, u was ich deshalb
nicht vergessen werde.
Ich habe hie u da, z.B. von Döring, einzelne
der ernsten Charaktere Shakespeare’s meisterhaft
darstellen sehen, aber die geist- u. farbenschimmern-
den Gestalten, welche Shakespeare auf dem Gold=
grund seines Humors für das Lustspiel hinge=
stellt, deren Versinnlichung habe ich bis jetzt für
eine Unmöglichkeit gehalten, u Ihnen beiden
danke ich es, vom Gegenteil überzeugt word-
den zu sein.
Es ist mir, als hätte ich einem maurischen
Palast mit seinem farbigen u goldenen Arabes=
ken goldene Zugabe goldene Engel auf plätschernden Fontai-
nen auf und nieder steigen sehen, wenn ich an
die spielende, schwungvolle Rede u. Gegenrede
Ihres Dialogs denke; ich habe die ganze Seele
voll heiteren Bildern, die Sie in mir erweck=
ten
u. daneben stehen Sie Beide mir in all Ihrer
Grazie und Schönheit in jeder Szene, in jeder
Pose, lebendig vor Augen. Erhalte Ihnen ein
gut Geschick den Schwung u. die Begeisterung
der Jugend lange Zeit.
Wenn Sie mich kennten, würde dieser Brief
Sie sehr in Verwunderung setzen, denn ich gehöre
gar nicht zu den Menschen, die so leicht zu befrie=
gen u. hinzureißen sind; aber ich danke Ihnen,
dass es Ihnen gelungen ist, u. ich freue mich,
dass ich nun doch einmal die Schönheit Shakespear=
scher heiterer Idealgestalten „mit Augen geschaut
habe.“ –
Stahr grüßt Sie freundlich, u. hat sich eben so inner-
lich erheitert als ich. Wir wünschen Beide, Sie
Beide noch recht oft auf der Bühne u. bei uns
zu sehen. –
Recht freundlich u. herzlich
Fanny Lewald Stahr
d. 15/7 60
Berlin Ich habe eben meinem ältesten, von
mir sehr geliebten Stiefsohn geschrieben, der
selbst höchst schwungvoll ist, geschrieben, er solle
ClassificationsArchivalie - Korrespondenz
Curatorial Remarks1 eigenhändiger Brief mit Unterschrift
Institution
Heine-Institut und Schumann-Haus
Department
HH Schriftstellernachlässe