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Schriftstellernachlässe
Korrespondenz von Wolfgang Stammler an Carl Enders
Schriftstellernachlässe
Schriftstellernachlässe

Korrespondenz von Wolfgang Stammler an Carl Enders

Absender*in (DE, 1886 - 1965)
Empfänger*in (DE, 1877 - 1963)
Datierung1919-1920
BeschreibungHannover, den 15.1.1919: S. bedankt sich für die Zusendung des Herder-Aufsatzes. "Ich bin in mancherlei Fährlichkeiten durch Bolschewisten, Polen (beinahe hätten sie mich in Posen noch erschossen) und Spartakiden glücklich zuhause gelandet, seit heute bis zur endgültigen Entlassung aus dem Heeresdienst beurlaubt worden und richte mich nun geistig und körperlich wieder in der Heimat ein, so gut das bei den jetzigen Verhältnissen gehen will. - Sie werden wohl auch wie alle preußischen Hochschulen (denn dazu rechnet sich doch hoffentlich Bonn noch) am 1.2. das sog. Kriegssemester beginnen." S. nimmt an, dass Enders an der neuen Universität in Köln - wie wohl auch Worringer - einen Lehrstuhl erhalten wird. "Oder sollen da die Straßburger untergebracht werden? Für ältere deutsche Philologie ist doch wohl schon Adam Wrede dort? Oder wäre auch für mich vielleicht etwas zu hoffen?"

Hannover, den 7.2.1919: S. möchte einige Verbesserungsvorschläge zu den "Jahresberichten für Neuere Deutsche Literaturgeschichte" machen. Er halte eine entwicklungsgeschichtliche Einteilung, nach Perioden, für sinnvoller als die jetzige schematische. "Ich möchte vor allem die Unterabteilungen; Lyrik, Drama, Epos beseitigt sehen; dadurch wird doch viel Zusammengehöriges zerrissen. Wer die Literatur über solche formale Gebiete in Zusammenhang sucht, der kann ja dann das Register befragen." S. findet die "Berichterstattung über die Memoiren usw. durch Paul Wiegler (...) viel zu breit." Anschließend fragt er, ob er Weilens Referat über Theatergeschichte übernehmen könne; die Goethe-Referate möchte er trotzdem behalten.

Hannover, den 20.8.1919: S. bedankt sich für die Zusendung der Homunkulus-Arbeit. "ich bin ganz damit einverstanden. (...) es kommt einem vor, wie das Ei des Kolumbus." S. selbst könne leider mehrere Arbeiten wegen des Papiermangels und des Streiks nicht drucken lassen. "Alles die glorreichen Errungenschaften der Revolution! Mitunter schäme ich mich meines deutschen Volkes und wollte, ich könnte weggehen, weit, weit fort".

Hannover, den 4.11.1919: S. bittet Enders, den Erstdruck eines Sonetts von Geibel, den er in der Universitätsbibliothek in Bonn vermute, mit der Druckfahne, die er beigefügt habe, zu vergleichen. Er habe seine "Niederdeutsche Literaturgeschichte" für Teubners "Aus Natur und Geisteswelt" beendet. "Ich habe vor, ein Buch über niedersächsische Mystik zu veröffentlichen, aber kein Verleger lässt sich auf wissenschaftliche Sachen ein. Da ich weder politische Leitartikel noch Ullstein-Romane schreibe, gibt es kein Papier vorläufig für mich, und so werde ich noch warten müssen, bis sich allmählich die verrückte Welt beruhigt." S. hat überraschend einige noch unbekannte Übersetzungen von Meister Eckhart und ein paar Handschriften entdeckt. Er ist mit seiner Situation an der Universität sehr zufrieden. "Auch in dem jetzigen Zwischensemester habe ich wieder meine Übungen über Schillers Jugendlyrik zusammenbekommen, mit 10 Teilnehmern, Lehrern und Lehrerinnen sowie Studenten, die viel Befriedigung bereiten." S. hofft, der Fortbestand der "Jahresberichte für Neuere Deutsche Literaturgeschichte" sei gesichert. Er halte allerdings im Interesse der Aktualität "ein schnelleres Tempo in der Berichterstattung" für notwendig.

Hannover, 29.12.1919: S. hat Enders Fichte-Studie noch nicht erhalten, bekundet aber lebhaftes Interesse. Darüber hinaus fragt er, ob "die angekündigte Barockarbeit über Günther" bald fertig sei. Er selbst werde in Kürze eine Arbeit über niederdeutsche Mystik fertig stellen und hofft auf die baldige Herausgabe des Geibel-Buches, obwohl der Druck "erst bis zur Mitte des II. Bds. gediehen" sei.

Hannover, den 16.8.1920: S. kann Enders endlich seine Geibel-Ausgabe zuschicken, "deren Druck durch Streiks so lange aufgehalten wurde". Er wäre Enders für eine Besprechung in einer Tageszeitung sehr dankbar.

Hannover, den 25.8.1920: S. erinnert daran, dass er "auf die Litzmann-Festschrift (...) subskribiert" habe; sie sei ihm bis jetzt noch nicht zugegangen. "Mit Roethes Urfaust-Hypothesen bin ich nicht ganz einverstanden, da ich nicht glauben kann, dass der junge Goethe den Fauststoff nur zu einem kleinbürgerlichen Liebestrauerspiel benutzt haben sollte. Ich möchte als bestimmt annehmen, dass dem Stürmer u. Dränger der in Straßburg an die Ausgestaltung des Stoffes ging, Faust als eine ähnlich geniale Gestalt erschien wie Prometheus, Cäsar, Mohammed, alle die Helden, die ihn damals bewegten, und dass er eben zeigen wollte, wie sich Faust in der kleinbürgerlichen Sphäre nicht wohlfühlen konnte und, was er dort antraf, vernichtete. Dagegen stimme ich unbedingt seiner Anschauung zu, dass der Faust der ersten Phasen zweifellos untergehen sollte, wie der Held des Faustbuches. Gegenüber Morris und Witkowski habe ich diese Anschauung stets in meinen Vorlesungen vertreten." S. ist selbstvertretender Vorsitzender des Bundes "Neue Hochschule" geworden. Er schickt Enders darüber Informationsmaterial. Die genaue Zielsetzung des Bundes werde demnächst auf einer Tagung in Frankfurt festgelegt; vorerst sei sie "noch etwas nebelhaft von Würzburger ausgearbeitet".

Hannover, den 29.8.1920: S. nimmt noch einmal ausführlich zu Roethe Stellung. "Wenn Roethe es so gemeint hätte, wie Sie es schreiben, so stimme ich selbstverständlich zu, nämlich "Wie wird ein titanischer Geist mit dem sinnlich-seelischen Erlebnis fertig?" Aber Roethe schreibt nichts davon, dass Faust auch schon in der ersten Phase der titanische Geist sein sollte, sondern es heißt da wortwörtlich: "Die tragische Heldin ist Gretchen, Faust nur der arme Sünder, Mephisto der böse Teufel der Sage. Und weiter für die zweite Phase: "Fausts Gestalt vertieft sich kaum." Dagegen erhob sich mein Widerspruch: dass der Faust der Anfänge nur der armselige Verführer sein sollte." Zum Plan des Bundes der "Neuen Hochschule" schreibt S.: "Wenn heutzutage ein denkender
Mensch nicht seine frühere Anschauung überprüft, so kann er mir leid tun. So bin ich denn auch selbstverständlich in manchem von meinen früheren Ansichten abgekommen und halte das für keine Schande. Aber zur Demokratie in des Wortes eigentlicher Bedeutung kann ich mich doch nicht bekennen; ich dächte, wir hätten in diesem Jahr am deutlichsten verspürt, was bei einer Volksherrschaft herauskommt. Ich gehöre keiner Partei an und mache das ganze politische Treiben nicht mit, da mich diese Opportunitätspolitik, alles dieses Gelüge und Betrüge anwidert. Tyrannei von unten (...) ist für mich weit gefährlicher alle geistige Kultur, weil die dem Volk gar nichts ist, das dank seiner Führer nur auf Essen, Trinken und Vergnügen eingestellt ist." S. hält wie Enders "Leitsätze von Würzburger" für "zu unklar und nebelhaft". Er betont, dass "der Bund (...) nicht im geringsten die Wissenschaft und ihre Freiheit antasten" wolle, "wie es seine Gegner, besonders v. Below, stets demagogisch zu behaupten lieben."

aus: Horstmann, Christina: Die Literarhistorische Gesellschaft Bonn im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dargestellt am Briefnachlaß von Carl Enders, Bonn, Bouvier, 1987
KlassifikationArchivalie - Korrespondenz
Anzahl/Art/Umfang5 maschinenschriftliche Briefe mit eigenhändiger Unterschrift ; 2 maschinenschriftliche Postkarten mit eigenhändiger Unterschrift, 1 eigenhändige Postkarte mit Unterschrift
AbsendeortHannover
ObjektnummerHHI.2010.1000.334