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Brief von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer, Dezember 1918, 1. Seite
Korrespondenz von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer
Brief von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer, Dezember 1918, 1. Seite
Brief von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer, Dezember 1918, 1. Seite

Korrespondenz von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer

Absender*in (1859-1941)
Empfänger*in (1869 - 1947)
Datierung1918
BeschreibungTranskription:

Berlin d. 28.12.18
Ludwigkirchstr. 2

Mein lieber Freund!

Wenn mein armseliges
Gedächtnis mich nicht täuscht,
ist am 2 Jan Ihr Geburts-
tag und so könnten meine
guten Wünsche für Sie gleich
mit verdoppelter Intensität
zu Ihnen kommen! Man
kann sich zu diesem furcht-
baren Jahresanfang ja
eigentlich gegenseitig nur
Kraft, Kraft und nochmals
Kraft wünschen, um alle drohenden
Schrecken, Sorgen und schmerzlichen
Enttäuschungen, die einem
jetzt unser deutsches Volk
bereitet, mutig zu bestehen.
Die bessere Zukunft werden
wir nicht mehr erleben.
Aber es klingt doch auch aus


[Seite 2]

Ihrem Brief ein sehr mutiges u.
gewisses Wollen heraus —
und ich denke dasselbe Wollen
beseelt jetzt nicht nur uns,
sondern manch’ Einen
von den Unsern! — Ich meine
Tag und Stunde ohne Klagen
und in einem großen Sinne
zu leben und in seinem kleinsten
Kreise in Liebe und Harmo-
nie die Geister aufrecht
zu halten, ist auch schon etwas,
— Morgen wirds wohl
wieder zu blutigen Zusammen-
stößen kommen, ich werde
mich aber keinem Demon-
strationszug anschließen
u an keiner Wahlversamm-
lung beteiligen. Wer von
der deutschen demokratischen
Partei aufgestellt wird,
der hat meine Stimme u
damit habe ich genug für
die Politik geleistet. —
Ihr liebes Büchlein habe ich


[Seite 3]

immer noch nicht lesen können,
mich nur an dem Verse
erquickt, der so ganz „Steinitzer“
ist und mich sehr gefreut
hat!
Mein Leben der letzten Jahre
war ja auch nur so ein
Versüchlein nach dem andern
und — ich glaube, ich hab’s
erreicht, wenns auch immer
noch ein täglich neu Beginn
braucht! Lili hat jetzt doch
die Ueberzeugung, daß es
niemand besser mit ihr
meint, als ihre alte Mutter.
Und trotzdem sie sehr ver-
liebt in ihren Mann ist,
kehrte sie nach dem kurzen
Ausflug in die volle
Selbständigkeit so sehr
gern und froh in das alte
Heimathaus zurück, daß
es mich sehr glücklich ge-
macht hat. Unser Zusammen-
leben hat sich bis jetzt


[Seite 4]

recht harmonisch und er-
freulich gestaltet und
bringt mir trotz mancher
Unbequemlichkeit doch
auch unendliche Bereicherung
in geistigem Sinne — auch
an künstlerischen Anregungen.
Hannes hat, wie so viele, jung
alle Zukunftsaussichten
auf die die Kinder geheiratet
haben, zerbrechen sehen
müssen. Aber er ist ein
so geschickter, phantasievoller
und vielseitiger Graphiker,
er wird mit der Zeit schon
wieder Verdienste u hoffent-
lich auch eine feste Anstellung
in einem Kunstverlag oder
einer lithographischen Anstalt
finden. Momentan freilich
habe ich fünf Menschen
zu ernähren (mit dem Dienst-
mädchen) und im März
werdens sechs! Das ist ein
bischen viel und ich muß
mich, wenn ich im Bett
liege, sehr zusammennehmen,


[Seite 5]

um die Sorgen nicht Herr über
mich und den nötigen Schlaf
werden zu lassen! Schlimm
ist auch, daß der vergrößerte
Haushalt mit seinen
Kriegsschwierigkeiten meine
Zeit so sehr in Anspruch nimmt,
und ich zur Composition
eines neuen Romans keine
innere Sammlung finden
kann! Ein Wunder ists ja nicht.
Ich habe in diesem Monat
sieben Aufsätze geschrieben,
damit sollte ich mich ja
wohl begnügen!
Im Sommer war Lili
Eine Zeitlang sehr pflege-
bedürftig und hat auch
jetzt noch recht viel zu
leiden. Aber sie beginnt
doch nun, sich auf ihr Kindchen
sehr zu freuen und Hans
ist ganz selig in der Aussicht
auf die nahende Vater-
schaft! Hoffentlich geht alles


[Seite 6]

gut und meine lieben
Kinder lernen noch mehr
als bisher sich in Einfach-
heit bescheiden. Es wird
ihnen beiden schwer ge-
nug. Es sind eben beide
Künstlernaturen, denen
das „Vollkommene“, das
„Echte“, das „Seltene“, ein
natürliches Lebensbe-
dürfniß ist, was doch nicht
befriedigt werden kann.
Hanns ist über die erste
schwere Zeit durch einen
intensiven Arbeits-
Rausch hinweg getragen.
Er hat sehr schöne Sachen
gemacht und hat, wie
mir scheint, eine viel
größere Freiheit u Leichtig-
keit in der Zeichnung
genommen. Er ist, bei


[Seite 7]

mancher Schwierigkeit ein
Charakter ein mir sehr lieber
und sympathischer
Mensch und wir verstehen
uns auch was Weltan-
schauung u solche Fragen
antrifft, recht gut!
Lucia sitzt neben mir
und flickt sich ihr Zeug
zurecht. Sie hat sich sehr
wirtschaftlich entwickelt,
half bei verschiedenen
Verwandten u tritt
am 17en. bei einem älteren
Ehepaar in Berlin als
Stütze in Stellung. Sie
hat nun endlich begriffen,
daß sie sich selbst erhalten
muß. Ist der Friede endlich
einmal geschlossen, so ist
ja auch die Aussicht, daß sie
wieder zu Vater u Geschwistern
heimkehren kann.


[Seite 8]

Hanna v. Dülong nahm ihre
Grüße heut Nachmittag mit
Freude entgegen. Sie ist
noch immer nicht geschieden
und durch den Tod ihrer Mutter
u alles Durchlittene sehr ge-
stört. Eine arme ruhelose
Seele, die vergebens bemüht
ist, sich durch einen glühenden
Catholizismus zu betäuben.
Marcus erwartet seine
definitive Entlassung und
arbeitet fleißig. Er und
Hanns verstehen sich, trotz
dem sie äußerste Gegenpole
repräsentieren, künstlerisch
u menschlich immer besser.
Die kleine Hilli Bauerschmidt
mußte mit ihrer Mutter nach
Erfurt ziehen u schreibt sehn-
suchtsvolle Briefe von dort.
Dies wäre denn so ein
Umriß unsres Lebens, mein
guter alter Freund! Ich hörte
gern auch mehr Persönliches
von Ihnen. Ihre Carte aus Berchtes-
gaden mit dem Gruß des jungen
e. o. [?] Banken hat mich im Sommer



[Randbemerkungen von hinten nach vorne:]


[Seite 8:]

sehr gefreut! Was wird er nun beginnen?


[Seite 7:]

Immer in herzlicher Treue Ihre Gabriele Reuter


[Seite 5:]

Wie geht es Frau Otto?


[Seite 1:]

Was Sie von Ihrer Schwester schreiben ist ja schauerlich!


Lili u Lucia grüßen u glückwünschen schönstens.

KlassifikationArchivalie - Korrespondenz
Anzahl/Art/Umfang1 eigenhändiger Brief mit Unterschrift
ObjektnummerHHI.2016.G.1001.666