Skip to main content
Brief von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer, 1915, 1. Seite
Korrespondenz von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer
Brief von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer, 1915, 1. Seite
Brief von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer, 1915, 1. Seite

Korrespondenz von Gabriele Reuter an Heinrich Steinitzer

Absender*in (1859-1941)
Empfänger*in (1869 - 1947)
Datierung1915
BeschreibungTranskription:


d. 26.7.15
Lieber Freund.
Es ist ganz abscheulich, daß
ich Ihnen noch nicht für Ihre
Freundlichkeit gegen Lucia
gedankt habe – nicht etwa,
weil ich so viel gearbeitet
hätte, sondern weil ich auf
dem Hirsch wirklich schwer
zum Schreiben kam und
später auch in Berl. Nach -
mittags und Abends von
Lili in Anspruch genommen
war. Ich habe nun die
Bestimmung über Lucias
Heimreise ganz in Hedwigs
Hände gelegt, da ich ja
weiß, wie empfindlich sie


[Seite 2]

in solchen Sachen ist. Auch
über einen event. Auf-
enthalt von Lucia, die Sie
so freundl. vorschlugen,
habe ich ihr die Entscheidung
überlassen. Ich denke Lucia
wird es durchsetzen und
ich hätte es auch sehr gern,
wenn sie von München
ein bischen was sähe.
Jedenfalls herzlichen Dank
für Ihre Güte gegen sie.
- Hier in Weimar bin
ich momentan, um der
Beerdigung von Onkel Hermann
Behmer beizuwohnen. Es
ist Marcus’ 86jähriger
Vater, der letzte von den
vielen Brüdern meiner


[Seite 3]

Mutter und derselbe, in dessen
Haus wir 10 Jahre lang wohnten.
Das scheint mir nun in
einem anderen Leben,
und doch sind einzelne Situa-
tionen wiederum so
seltsam hell und lebendig.
Ich fand die Töchter ganz
erhoben von dem heiteren
getrosten Einschlafen
des alten Mannes, der
in voller Geisteskraft
noch seine Bestimmungen
getroffen, von ihnen Ab-
schied genommen, alle
Freunde namentlich
genannt, um ihnen
Grüße zu bestellen und
mit den schönsten Träumen
beschäftigt, sich friedvoll


[Seite 4]

zum letzten Schlummer nie-
dergelegt und unter
immer leiser werdenden
Atemzügen hinüber
gegangen war. Sein
Gesicht, seine Hände waren
wundervoll schön und
trugen noch ganz das Ge-
präge solcher feierlichen
Ruhe. Er sah meiner Mutter
unendlich ähnlich, obwohl
im Leben diese Ähnlichkeit
nicht hervortrat.
Es wird Marcus sehr
Nahe gehen, er hing mit
großer Liebe an dem Vater
und dem alten Heimat-
haus, das nun an Freunde
vermietet oder verkauft
wird. – Er steht jetzt in


[Seite 5]

Russisch-Polen,
schrieb mir kürzlich einen
sehr interessanten Brief.
- Von hier aus werde
ich auf der Rückreise wohl
noch einen Tag bei Kaiser
sein, Freitag wieder
in Berlin. Lili ist in
sehr guter Stimmung
von ihrem Landauf-
enthalt heimgekommen.
Hoffentlich bleibt es so,
so daß unser Zusammen-
leben sich immer freund-
licher und harmonischer
gestaltet. Wir bleiben
ruhig in Berlin, das Wetter


[Seite 6]

ist so kühl und unbe-
ständig, daß es einem
diesen Entschluß be-
deutend erleichtert.
Und Sie, lieber Freund?
Schreiben Sie mir bald
einmal wieder,
auch wenn es nichts
Besonderes zu berichten
giebt. In der letzten
„Woche“ steht wieder
ein Artikel von mir.
Bestellte Arbeit.
Wann wird die Novelle
fertig werden?
Mir jedenfalls hat
„die große Zeit“ keinen


[Seite 7]

Schaffensaufschwung gebracht.
Fischer riet mir, für
seine Sammlung von
Schriften zur Zeitgeschichte
ein Büchlein über
die deutsche Frau in
ihren verschiedenen
Erscheinungsformen
zu schreiben. Das
werde ich dann wohl
auch tun. Den Roman
möchte er noch nicht
herausgeben.
Jetzt muß ich zu meinen
Cousinen hinaufgehen.
Die Kinder von einst sind
verblühte Frauen ge-
worden. Weimar


[Seite 8]

mutet mich diesmal
wieder unsäglich
melancholisch, in
Vergangenheit ver-
sunken an. Nein —
hierher möchte ich
nicht zurück. Tausend-
mal lieber Berlins
herbe Nüchternheit!
Viel herzliche Grüße
und denken Sie manch-
mal an Ihre
alte getreue
GR.

KlassifikationArchivalie - Korrespondenz
Anzahl/Art/Umfang1 eigenhändiger Brief mit Unterschrift
ObjektnummerHHI.2016.G.1001.662